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Culture 2000

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Die Suche nach Yggdrasil

von Hansjörg Küster

Allgemeines über die Esche

Die Esche (Fraxinus excelsior), der Baum des Jahres 2001, hat seit alters her besondere wirtschaftliche, kulturelle und mythologische Bedeutungen. Auf den wirtschaftlichen Nutzen des Baumes verweist der wissenschaftliche Gattungsname Fraxinus, für den es mehrere Erklärungen gibt. Er könnte von dem lateinischen Verb "frangere" für "brechen" abgeleitet sein; dann wäre Fraxinus der "Brechbaum", von dem man Zweige abknicken kann. Bei einer anderen Erklärung des Namens sieht man die sprachliche Verwandtschaft zum altgriechischen Wort "phrassein" für "umzäunen". Man kann ohne viel Aufwand lebende Hecken und Zäune bauen, wenn man Eschenäste in den Boden steckt; sie bewurzeln sich und schlagen aus. Aus Eschenästen hat man früher außerdem Speere und Lanzen hergestellt, mit denen man etwas einfrieden oder schützen konnte; diese Art des Abgrenzens wird ebenfalls mit dem griechischen Wort "phrassein" beschrieben.

Eschenzweige ergrünen immer wieder aufs Neue, auch wenn sie von Ziegen, den gefräßigsten "Feinden" aller Bäume, kahlgefressen werden. Fraxinus excelsior ist ein erstaunlicher Baum, der wie Phönix aus der Asche immer wieder zu neuem Leben kommt, wenn nur das weit verzweigte Wurzelwerk des Baumes genügend Wasser und mineralische Nährstoffe aus dem Boden aufnehmen kann. Kaum ein anderer unserer heimischen Bäume hat ein ähnlich ausgedehntes Wurzelwerk, und kaum ein anderer Baum gibt an einem warmen Sommertag von der Oberfläche seiner gefiederten Blätter so viel Wasser ab wie die Esche.

Die Herkunft und Heimat von Yggdrasil in der Mythologie

Die Zähigkeit und Unverwüstlichkeit sowie außerordentlich tief reichende Wurzeln zeichnen den sagenhaften Weltenbaum Yggdrasil aus; stets war unbestritten, dass Yggdrasil eine Esche ist, die Weltenesche. Sie wird in der Edda des Snorri Sturluson erwähnt, einem Heldenepos, das im 13. Jahrhundert in Island aufgezeichnet wurde. Yggdrasil wächst in Thule. Man weiß nicht, wo diese sagenhafte Insel zu lokalisieren ist, über die seit antiker Zeit immer wieder berichtet wurde; der Verdacht lag immer wieder nahe, Thule mit Island oder gar mit Grönland gleichzusetzen, da die Edda ja im hohen Norden aufgeschrieben wurde. Auf Grönland gibt es sogar eine Siedlung namens Thule. Aber auf Island wächst die Esche nicht, erst recht nicht auf Grönland. Dort sind die Sommer zu kurz, die Winter zu lang, die Winde zu rau; das dortige Klima verträgt selbst die zähe Esche nicht. Yggdrasil könnte dann eine Eberesche sein. Eberesche ist ein anderer Name der Vogelbeere, die es auf Island gibt. Die Vogelbeere hat ebenso wie die Esche gefiederte Blätter, dazu noch auffallende rote Früchte, die an Eibensamen erinnern. Eschenähnliche Blätter und an Eibensamen erinnernde Früchte machen sie zur Eberesche, zur "Eibenesche". Der Vogelbeerbaum ist vielleicht noch zäher als die Esche. Immer wieder kommen belaubte Zweige zum Vorschein, selbst dann, wenn sich Schnee und Eis darüber gewälzt haben, auch in Island.

Wenn man aber daran festhalten möchte, dass die Verfasser der Edda in Yggdrasil tatsächlich eine Esche sahen, kann Thule nicht Island sein. Thule muss dann der Name einer Insel sein, auf der die Esche wächst. Der estnische Historiker und Staatspräsident Lennart Meri ist der Ansicht, Thule sei die estnische Insel Saaremaa, die auch unter dem Namen Ösel bekannt ist. Dort wachsen Eschen.

Am Krater von Kaali auf Saaremaa in Estland, der durch einen Meteoriteneinschlag einige Jahrhunderte vor Christi Geburt entstand, wachsen heute Ulmen und Eschen.

 

Thule und die Insel Saaremaa

"Tule" ist in der estnischen Sprache das Wort für Feuer. Tatsächlich hat es eine gewaltige Naturkatastrophe auf Saaremaa gegeben, bei der das Feuer eine Rolle spielte. Auf die Insel raste einst ein weithin sichtbarer Feuerball zu, ein Meteorit, wie wir heute wissen. Er schlug mitten auf Saaremaa ein; der Meteoriteneinschlag muss wie die Detonation einer Atombombe gewirkt haben. Mehrere Krater blieben am Ort des Einschlages zurück, unter anderem der Krater von Kaali oder Sall mit einem Durchmesser von über 100 Metern (Abb. 1). Dieses Unglück ereignete sich nach neuesten Forschungen nicht etwa vor vielen Jahrtausenden, sondern wenige Jahrhunderte vor Christi Geburt. Damals lebten auf der Insel bereits Menschen, die Ackerbau betrieben und Vieh hielten. Sicher kamen bei der Katastrophe Menschen und Tiere um, und der Wald brannte. Wer das Unglück überlebte, sah zwar die Folgen, konnte sich das Geschehen aber nicht erklären. War ein Stern vom Himmel gefallen, der als glühend heißer Felsbrocken Löcher in die Erde schlug, die sich später mit Wasser füllten? Warum erbebte die Erde, war ohrenbetäubender Lärm zu hören, warum raste eine gewaltige Druckwelle über die Insel, und warum brannte der Wald lichterloh? Hatten die Götter ein Strafgericht inszeniert? Hatte Thor seinen goldenen Hammer auf die Erde geworfen? Oder verhielt es sich so, dass er sein leuchtendes Auge zum Pfand geben musste, bevor er Wasser aus der Quelle zu trinken bekam? Davon ist in der über ein Jahrtausend später aufgezeichneten Edda die Rede. Oder hatte der von Goethe besungene König in Thule seinen goldenen Becher ins tiefe Wasser geworfen? Vielleicht hatte auch der Riese Kalevipoeg, heute eine Art sagenhafter Nationalheld in Estland, mit der Faust oder dem Schwert Felsen gespalten? Es gibt noch viele weitere estnische Sagen, deren Entstehung mit der Katastrophe in prähistorischer Zeit in Zusammenhang gebracht werden kann. Da gibt es die Geschichte vom Ochsengespanne und Mühlsteine werfenden Riesen Toll. Auch wird erzählt, dass ein Gott auf Saaremaa ein Gotteshaus baute und plötzlich feststellte, dass sein Sohn ein weiteres Heiligtum errichtete; der Gott, der Konkurrenz nicht dulden wollte, trachtete danach, den Bau seines Sohnes durch den Wurf eines Felsens zu vernichten. In der Edda wird berichtet, dass nach der Katastrophe die Esche Yggdrasil direkt an der sagenhaften Quelle emporwuchs, also an dem Wasser, das sich im Meteoritenkrater sammelte. Die Esche hat in der Edda aber auch noch eine andere Bedeutung; aus ihrem Holz wurden nämlich in einem Schöpfungsmythos die Männer, aus dem Holz eines anderen Baumes (meist als Ulme gedeutet) die Frauen geformt. Wenn man nach Kaali kommt, ist man überrascht:

Tatsächlich stehen auch heute am Meteoritenkrater Eschen und Ulmen, was in der Gegend etwas ungewöhnlich ist; Saaremaa ist sonst weithin von Wacholderheiden überzogen, die, nachdem die Insel jahrzehntelang militärisches Sperrgebiet der Sowjets gewesen war, vielfach mit Birken, Kiefern und Fichten zugewuchert sind. An feuchten, nährstoffreichen Plätzen haben Ulmen und Eschen im Baltikum, auf den großen Ostseeinseln und im Süden Skandinaviens ein paar Konkurrenten unter den Bäumen weniger als in Mitteleuropa, und deshalb sind sie dort in Massen in die Höhe gewachsen. Vor allem kommt im Norden der Bergahorn nicht vor, mit dem die Esche gemeinsam in mitteleuropäischen Schluchtwäldern wächst. Auf Bornholm, Gotland und Saaremaa gibt es sogar reine Eschenwälder aus der Sicht des Mitteleuropäers ist dies etwas Ungewöhnliches (Abb. 2).

Der See, der sich heute im Krater von Kaali befindet, ist nur wenig tiefer als zehn Meter, scheint aber grundlos zu sein. Und man kann leicht die Vorstellung gewinnen, dass die weit verzweigten Wurzeln der dort stehenden Eschen bis weit in den Untergrund reichen oder bis in die Unterwelt. Wasser und vielerlei Pflanzennährstoffe sind ständig verfügbar, so dass sich alljährlich üppiges Grün rings um den Krater entwickelt, genauso wie nach dem Feuer, das durch den Meteoriteneinschlag ausgelöst wurde.

Darstellungen von Yggdrasil

In der Gegend um Saaremaa hat sich in vorchristlicher Zeit ein besonderer Kult mit Lebensbäumen entwickelt. Einer dieser Bäume wurde auf einem Stein dargestellt, der heute auf Muhu oder Moon, der Nachbarinsel von Saaremaa, besichtigt werden kann (Abb. 3). Ein Welten- oder Sonnenbaum mit einem schlanken Stamm trägt eine stilisierte Krone; man erkennt außerdem das ausgedehnte Wurzelwerk. Vielleicht ist das eine Darstellung der Weltenesche Yggdrasil. Neben dem Baum steht ein Priester mit einem Speer, und dann sieht man noch ein Füllhorn. Es ist ein Symbol für die Feier, zu der man sich anlässlich eines Begräbnisses in vorchristlicher Zeit traf. Aber das Horn kann auch eine andere Bedeutung haben; denn von einem Horn ist auch in der Edda die Rede. MIMIR, der Besitzer der Quelle, an dem Yggdrasil steht, trinkt mit dem Gjallarhorn, dem "tönenden Horn", Wasser aus dieser Quelle der Klugheit und des Verstandes. Sieht man also in Wirklichkeit auf der eigentümlichen Skulptur Mimir mit dem Speer und das Gjallarhorn neben der Esche Yggdrasil?

Abb.3: Sekundär in die mittelalterliche Kirche von Liiva auf Muhu (Estland) eingebauter Stein mit dem Weltenbaum, einem Priester mit Speer und einem Hörn. Der Stein wird so abgebildet, wie er in der Kirche zu sehen ist; Baum und Priester sind dort waagerecht gelegt, ursprünglich standen sie aufrecht.

Der Stein mit dieser Darstellung ist wohl ursprünglich eine Grabplatte gewesen, sie befindet sich nun aber schon seit vielen Jahrhunderten in der mittelalterlichen Kirche von Liiva, die 1267 gebaut wurde. Man passte den älteren Stein in das Mauerwerk ein, aber so, dass sowohl der Baum als auch der daneben stehende Priester in liegender Position gezeigt werden. Nur unter großen Mühen kann man den Stein sehen, weil man ihn nur über eine verwinkelte Treppe erreicht. Aber man soll vor allem erkennen, dass der Stein aus vorchristlicher Zeit "gelegt" wurde; der alte Glaube wurde besiegt, der Baum und der Priester (oder der Mimir?) stehen nicht mehr aufrecht, denn es herrscht ja nun das Christentum. Örtliche Führer, die das Bauwerk fremden Besuchern vorführen, wissen zwar keine Details, aber berichten, dass die Darstellung des Baumes auf dem Stein etwas mit dem uralten Gewächs zu tun habe, das draußen vor der Kirche steht: Dort befindet sich eine gewaltige Esche, die im Lauf der Jahrhunderte immer und immer wieder geschneitelt wurde und natürlich auch immer und immer wieder neue Zweige sprießen ließ (Abb. 5).

Eschen kann man auf sehr vielen Kirchhöfen im Baltikum, in Finnland und Skandinavien finden. Oft sind sie geschneitelt oder in Form geschnitten. Möglicherweise blieben sie auch nach der Christianisierung weiterhin Gewächse mit besonderer Bedeutung (Abb. 4). Aber ein solcher Baum wie der in Liiva auf Muhu sucht weit und breit seinesgleichen (Abb. 5).

Abgesehen von ihrer mythologischen Bedeutung nutzte man die Eschen zur Gewinnung von Laubheu auch in der Zeit, in der das Christentum in den Norden und Osten Europas vorgedrungen war. Vor allem in Gebieten, in denen sich keine Wiesen zur Gewinnung von Grasheu für den Winter anlegen ließen, brauchte man die Bäume zur Gewinnung von Laubheu. Nur so konnte man Schafe, Ziegen und Rinder den langen Winter über im Stall halten und füttern. Laubheu ist da sehr willkommen, und Eschen, Ulmen und Birken werden bis zum heutigen Tag immer wieder geschneitelt. Dabei werden die grünen, frisches Laub tragenden Äste mit einem speziellen Laubmesser von den Bäumen geschnitten und dann zum Trocknen aufgehängt, entweder in den Bäumen oder in Vorbauten der Bauernhäuser, die nämlich aus diesem Grund "Lauben" heißen. Aus den Schnittstellen an den Bäumen wachsen bald neue Schösslinge empor, die man nach einigen Jahren erneut schneiden kann.

Wege nach Thule und zur Weltenesche

Thule ist natürlich niemals ausschließlich genau das gleiche wie Saaremaa oder Ösel, Island und Grönland, sondern eine Ortsbezeichnung im Mythos. Und auch Yggdrasil ist nur eine Vorstellung, wobei als besonders bemerkenswert hervorgehoben werden muss, dass dieser Baum einer der ganz wenigen mit einem individuellen Namen ist. Aber eine Esche ist stets eine Esche, und alle Erzähler der Edda waren sich darüber einig, dass wirklich eine Esche am Rand der Quelle stand, die sich nach Thors Hammerwurf auftat. Wenn Thule wirklich auf Saaremaa lokalisiert werden kann, sind die Erwähnungen der Esche ein sehr wichtiges Indiz für die Bestätigung der Vermutung, dass die sagenhafte Insel nicht in der Nord-, sondern in der Ostsee liegt. Denn Eschen wachsen wirklich am Meteoritenkrater von Kaali - mitten auf Saaremaa.

Die Mosaiksteine passen zusammen. Thule und Yggdrasil, Saaremaa und Kaali können besucht und besichtigt werden. Hat man dies vor, nimmt man am besten eine Autofähre in die estnische Hauptstadt Tallinn. Man fährt auf einer gut ausgebauten Straße über Risti nach Virtsu. Dort gibt es mehrfach am Tag eine Autofähre nach Kuivastu auf Muhu. Muhu und Saaremaa sind durch einen Damm verbunden. Die Kirche und die Esche von Liiva liegen direkt an der Straße nach Kuressaare, der Hauptstadt von Saaremaa. Zum Krater von Kaali gibt es ein Hinweisschild. Es existieren erst wenige Hotels auf Saaremaa, weil das Land erst allmählich aus einem langen Dornröschenschlaf erwacht. Aber auch deswegen ist die größte estnische Insel ein überaus reizvolles Reiseziel.

Das Buch "Silberweiß" von Lennart Meri ist leider nur in der estnischen Originalsprache und in finnischer Übersetzung erschienen. Hinweise auf das Buch finden sich unter anderem bei LUDWIG (1999) und KARIN (1994). Die Edda des SNORRI STURLUSON ist in deutscher Übersetzung von KRAUSE (1977) erhältlich.

 



Literatur:

Ludwig, K., Estland. München 1999.

Karin,T, Estland. Köln 1994.

Krause, A., Übersetzung und Kommentierung einer Auswahl der Edda des SNORRI STURLUSON. Stuttgart 1977.

 
design: Kai M. Wurm
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